Verlassen, vereist, vergessen – Funivia del Furggen
„Extravaganter LostPlace in luftiger Höhe (3.492 m) wartet auf Besucher“ – so oder ähnlich hatte der Clickbait-Titel eines Blogbeitrags geklungen, den JR849 & ScandinavianMagic einst für ihr Abenteuer im Furggengrat des Matterhorns ins Internet gestellt hatten. Und was soll ich sagen? Ich bin drauf reingefallen. Und zwar mit allem, was dazugehört: Schlafsack, Steigeisen, Klettergurt und der Idee, das Ganze überleben zu wollen.

Die Geschichte beginnt 1951, als man in Plan Maison (2.560 m) beschloss, eine Dreiseilbahn auf den Furggen (3.492 m) zu bauen – ein unscheinbarer Nebengipfel im Furggengrat des Matterhorns. Seilbahntechnisch damals State of the Art: knapp 1.000 Höhenmeter Differenz, drei Kilometer Strecke ohne Zwischenmasten, alles getragen von fetten Tragseilen und Zugseilen. Lief auch einige Jahrzehnte ganz gut – bis 1993 ein nächtlicher Schneesturm kam, das Zugseil riss und die Gondel Richtung Tal schoss. Skibetrieb: beendet. Eine Reparatur? Gescheitert an inzwischen deutlich verschärften Sicherheitsbestimmungen. Neubau? Zu teuer. Seitdem: Ruhe da oben.
Heute gammelt die Seilbahnstation auf dem Grat friedlich vor sich hin. LostPlace-Status deluxe – aber eben auch nicht ganz ohne. JR849 empfahl damals als Mindestausrüstung: Eispickel, Steigeisen, Klettergurt, 50 m Seil. Ich hatte Seil und Gurt – Eispickel und Steigeisen waren eher so Kategorie „hab ich mal gesehen“. Also wurde der Plan erstmal vertagt.
Ein paar Jahre später – zwischenzeitlich hatte ich beim DAV gelernt, wie man mit Steigeisen nicht stirbt – rückte der Ort wieder ins Blickfeld. Markus war sofort dabei, und so standen wir am 30. August 2015 in Würzburg in der Auffahrt. Ziel: Breuil-Cervinia, kleines italienisches Bergdorf mit Matterhornblick und (gefühlt) mehr Skiliften als Einwohnern.

Nach einer Nacht am Fuße des Bergs starteten wir am 31. August bei Bilderbuchwetter. Strahlend blauer Himmel, ein paar dekorative Cumuluswölkchen – das volle Bergpanorama. In Cervinia lösten wir ein Ticket für die Bahn nach Plan Maison. Spart 500 Höhenmeter, kann man machen. Blieben trotzdem noch rund 800 bis zur Seilbahnstation – mit schwerem Gepäck: Schlafsack, Isomatte, Seil, Eispickel, Steigeisen, Verpflegung, Wasser. Und ja, irgendwann wurde es anstrengend. Der Weg wurde steiler, die Pausen häufiger.


Ein paar Altschneefelder später zeigten uns alte Pistenmarkierungen der „schwarzen Piste 9“, dass wir auf dem richtigen Weg waren. Einige der Schlüsselstellen waren mit einfachen Leitern entschärft. Doch dann kam die Eisflanke: 45 bis 55 Grad steil – und genau die sollte uns auf den Grat bringen.



Also Steigeisen an, Eispickel raus, Konzentration hoch. Zunächst funktionierte alles bestens – bis es passierte: Kurz vor dem Grat bricht ein Stein unter meinem Steigeisen aus dem Eis, und ich donnere dutzende Höhenmeter den Hang runter. Einmal Rodeo ohne Ansage. Ergebnis: Blaue Flecken, eine zerstörte GoPro – und eine Lektion in Sachen Demut am Berg!

Zweiter Anlauf: Diesmal klappte es. Wir standen auf dem Grat, wenige Meter vor uns die Station – rostig, brüchig, verwittert, schön. Schnell rein ins Gemäuer, Ausrüstung in den nächstbesten Raum geworfen und raus auf die Dachterrasse: die letzten Sonnenstrahlen des Tages genießen. Das Panorama: Matterhorn, Dent d’Hérens, Mont Brulé – einfach nur episch.










Als die Sonne hinter den Bergen verschwunden war, begaben wir uns auf Erkundungstour durch das Innere der Station. Das massive Stahlfachwerk, das früher mal die Zugmechanik für die Gondeln getragen hatte, sah noch ganz gut aus. Highlight: der alte Skitunnel, der sich durch einen Teil der Station zieht. Und mittendrin, scheinbar wahllos im Flur geparkt: ein massiver Dieselgenerator. Das Ding muss mehrere Tonnen wiegen – wie (und warum) zur Hölle hat man den dahin geschafft? Klauen wollte den aus der Station, mitten im Furggengrat doch sicherlich keiner?








Wir richten uns im alten Aufenthaltsraum ein – der einzige Raum mit noch kompletten Fensterscheiben. Richtig wohnlich, zumindest für LostPlace-Verhältnisse. Gaskocher an, Abendessen bei Kerzenschein. Fast romantisch.


Zumindest kurz. Denn obwohl der Wetterbericht bestes Hochdruckwetter für die kommenden Tage angekündigt hatte, kippte das Wetter in der Nacht. Während ich selig schlief, konnte Markus kein Auge zumachen – draußen tobte ein Schneesturm und der Wind pfiff durch jede Ritze der Hütte.
Früh am Morgen weckte mich Markus – das Wetter werde laut seinem Unwetterradar noch schlechter. Also schnell Sachen gepackt, Kletterausrüstung an, raus ins White-Out. Sicht: gleich null. An der Schlüsselstelle im Grat standen wir wieder genau da, wo ich am Vortag abgestürzt war. Und diesmal: Nebel, Eis, keine Sicht, keine klare Route.


Runterklettern? Bei der Sicht? Wohl kaum. Also: abseilen. Nur – wohin mit dem Seil? Eine Eisschraube oder einen Eispickel wollte keiner von uns opfern. Letztlich fanden wir ein paar alte Bretter – wahrscheinlich Überbleibsel einer Lawinenwand oder von der Seilbahnstation – und bastelten daraus einen behelfsmäßigen Anker. Der hielt, das Seil wurde eingebaut, und das Abseilen klappte reibungslos. Endlich wieder fester Boden unter den Füßen!



Trotz des schlechten Wetters entschieden wir uns spontan, noch die Südwand des Matterhorns entlang zum Liongrat zu queren – dort wartete die Rifugio Duca Degli Abruzzi mit heißem Getränk und Dach überm Kopf. Kurz durchschnaufen und alles Revue passieren lassen.
Drei Stunden und 1.100 Höhenmeter später stehen wir wieder am Auto. Sonne. Blauer Himmel. Als wär nichts gewesen.