Höhenrausch und Heiligtümer

Höhenrausch und Heiligtümer

Manchmal spaltet sich eine Gruppe nicht an einem Streit, sondern an verschiedenen Vorstellungen. Thomas war bereits gestern weiter gewandert. „Ich bin nicht so der Typ fürs Rumsitzen“, hatte er gesagt. Vielleicht war’s auch das ständige Gerede über Symptome und Höhenkrankheit. Wer weiß.

Bene blieb zurück – seine Kopfschmerzen und Gleichgewichtsprobleme waren mehr als ein Alarmsignal. Yannik und Basti blieben bei ihm, entweder aufgrund von Placebo-Symptomen oder aus Solidarität, Mitgefühl oder Bequemlichkeit – ganz genau kann man das nie sagen.

Also los: Daniel und ich. Zwei Leute, zwei Rucksäcke und mehr Ehrgeiz als Erfahrung.

Wir steigen auf nach Yak Kharka – eine Handvoll Unterkünfte, eingeklemmt zwischen Geröll, Himmel und der Ahnung von Schnee. Der Weg ist karg, aber er zieht. Immer wieder Felsabbrüche und Landslide-Areas. Keine Bäume mehr, nur noch Staub, Fels, Wind. Die Landschaft wird anspruchsvoller.

In Yak Kharka schlafen wir schlecht. Der Ofen glüht, das Fenster klappert, die Gedanken kreisen. Ich habe nachts das Gefühl, der Kopf wird mir von innen ausgepolstert. Die Höhe drückt auf alles – auf das Herz, den Magen, die Psyche.

Am nächsten Tag ziehen wir weiter zum Thorong Phedi Base Camp. Ein letzter Außenposten vor dem Pass.

Die Lodge liegt wie ein Fremdkörper in den Bergen. Drinnen: Gemurmel, rauchige Luft, Menschen, die nicht wissen, ob sie morgen den Pass schaffen. Der Ofen brennt mit Yakdung und Diesel, eine Kombination, die riecht, als würde jemand Plastik und Erinnerungen gleichzeitig verbrennen. Aber sie wärmt.

Wir sitzen stundenlang da, schweigend, starren ins Feuer, trinken Tee, essen Pasta, die kaum mehr nach etwas schmeckt. Auf der Toilette friert das Wasser in der Leitung.

Wir machen noch eine kurze Akklimatisierungswanderung, kaufen frisches Wasser, denn Filtern ist auf dieser Höhe nicht mehr und legen uns ins Bett

Wecker: 3:30 Uhr. Dunkelheit, Frost, ein dumpfer Kopfschmerz. Das Wasser, welches ich gestern noch gekauft hatte und das neben meinem Bett stand, war gefroren. Das Wasser welches ich mir in den Schlafsack gesteckt hatte war kurz davor. Ich denke kurz ans Umdrehen, noch bevor wir losgehen. Doch dann: Schritte im Geröll, Stirnlampen, Atemwolken. Der Hang beginnt. 4.500 Meter, 4.800, 5.000. Die Luft wird dünner, jeder Schritt ein Gespräch mit sich selbst.

„Warum machst du das?“ – „Weil ich’s kann.“ – „Sicher?“ – „Nein.“

Zwei Teestuben retten mich.

Die erste steht in einer windgepeitschten Mulde, kaum mehr als ein Zelt. Drinnen: ein dampfender Topf, Plastikbecher, ein Mann, der schweigt. Der Tee brennt angenehm in der Kehle, während meine Hände zittern.

Die zweite Teestube wirkt wie eine Fata Morgana. Ich bin mir sicher, dass ich sie mir eingebildet habe – bis Daniel vor mir verschwindet und ich sie wirklich sehe. Noch einmal Tee, noch einmal kurz sitzen, bevor der Hang uns wieder auffrisst.

Und dann: Der Pass. Thorong La. 5.416 Meter.

Kein großer Triumph – Nur Erschöpfung. Und Stille. Der Wind weht eisig kalt, die Gebetsfahnen gefroren. Ich weine fast, ob es vor Schmerzen der Lunge, des Herzens und aller Muskeln aufgrund des Sauerstoffmangels oder aus Freude war? Vielleicht beides.

Wir machen ein paar Fotos. Es sind nicht viele heute.

Der Abstieg ist dann ein schlechter Witz. Serpentinen bis zur Hölle. Knie schreien, Füße schmerzen, der Weg zieht sich wie ein schlechter Film.

Muktinath ist da fast eine Fatamorgana, dann ein Schild, dann plötzlich Realität. Ein Gasthaus. Eine Dusche. Ein Teller Dal Bhat. Ein Bett. Mehr brauche ich heute nicht mehr!

Nach einem kurzen Mittagsschlaf am Nachmittag: Klosterbesuch.

Muktinath ist nicht irgendein Ort. Es ist einer der heiligsten Orte des Hinduismus, ein Wallfahrtsort, ein Schnittpunkt der Religionen. Shiva, Vishnu, Buddhisten, Hindus – sie alle finden hier irgendwas. Oder sich selbst. Oder wenigstens einen Grund, hierher zu kommen.

Vor dem Tempel: Hunderte von Glocken, Butterlampen, zeremonielle Tücher.

Und: Esel. Viele Esel. Darauf: Hunderte viel zu dicke indische Pilger, die sich die letzten Höhenmeter hochtragen lassen – eingewickelt in Daunenjacken, Selfiestick in der einen Hand, Thermoskanne in der anderen.

Wir sitzen im Restaurant am Weg zu den Tempeln, essen gebratenen Reis, und schauen durchs Fenster.

„Ich glaube, der Esel hat’s schwerer als wir am Pass“, meine ich trocken.

„Die Frage ist, ob der Esel das auch spirituell verarbeitet bekommt“, fragte sich Daniel.

Wir lachen. Ein bisschen boshaft, ein bisschen müde. Aber auch ein bisschen ehrlich.

Im Tempel selbst: 108 Quellen, die heilig sein sollen. Gläubige waschen sich im eiskalten Wasser, schreien auf, lachen, weinen, beten. Manche stürzen sich wie in Trance hinein. Ich denke an unsere letzte Dusche in Manang – eiskalt, keuchend – und sehe plötzlich Parallelen.

Wir ziehen barfuß durch die Anlage, mit Gänsehaut auf den Armen und Staub zwischen den Zehen. Der Rauch von Räucherstäbchen liegt in der Luft, irgendwo spielt jemand eine Flöte.

Am Abend sitzen wir auf der Dachterrasse der Lodge. Die Sonne verschwindet hinter den Bergen, und für einen Moment scheint alles ruhig: das Land, die Gedanken, der Atem.

Wir haben die schwerste Etappe unserer Wanderung geschafft!

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